Die strukturellen Grundlagen unserer Gesellschaft spiegeln sich auch in der Wissenschaft wider. Unser Handeln, unsere Denkweisen und unsere Entscheidungen werden häufig durch unbewusste Einstellungen und Vorannahmen beeinflusst. Gesellschaftliche Gegebenheiten determinieren unsere individuelle Verfasstheit mit. Sogenannte "unconscious bias" können beispielsweise dazu führen, dass nicht die beste, objektive Qualifikation, sondern die größte Ähnlichkeit und Vertrautheit mit einer Person unbewusst zum vorrangigen Kriterium für die Auswahl wird.
Als "leaky pipeline" wird in der Wissenschaft die Tatsache bezeichnet, dass der Anteil an Frauen* mit Voranschreiten der wissenschaftlichen Karriereebene absinkt. Auch an der Universität Wien sind Frauen* in wissenschaftlichen Top-Positionen nach wie vor unterrepräsentiert, obwohl das Doktoratsstudium schon seit vielen Jahren von mehr Frauen* als Männern abgeschlossen wird. Seit 2004/05 schließen mehr Frauen* als Männer (ca. 51%) ein Doktorat an der Universität Wien ab. Aber seit 2004 stagniert der Anteil an Postdoktorandinnen mit einem prozentualen Anteil von knapp 40%. Zwar ist der Frauen*anteil mit mittlerweile 34 % bei den Professuren (Stand 2023) gestiegen, jedoch halten sich Geschlechterdifferenzen und Gender Bias noch immer hartnäckig im wissenschaftlichen Bereich. Auch an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften werden gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse sowie unbewussten Einstellungen und Vorannahmen repliziert. Der Anteil an Frauen* unter den Professor*innen liegt unter dem gesamtuniversitären Schnitt mit 22%. Und auch bei den Postdocs (35%) und Praedocs (36%) ist der Anteil an Frauen* niedrig. Genau diese "leaky pipeline" gehört geschlossen.
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Stereotypen: Wissenschaftskarriere und Gender Bias
Ein entscheidender Faktor in der Postdoc-Phase ist die Förderung durch den*die Mentor*in, wie zum Beispiel durch Empfehlungsschreiben. Hierbei legen mehrere Studien nahe, dass der Sprachgebrauch sowie das Vokabular unterschiedlich sind, je nachdem, ob die zu empfehlende Person ein Mann oder eine Frau* ist. Werden Gutachten oder Empfehlungsschreiben für Männer verfasst, fallen häufiger Begriffe wie "most gifted", "best qualified" oder "rising star". In Experimenten wurde zusätzlich herausgefunden, dass Publikationen bei willkürlicher Namenszuordnung als tendenziell wichtiger eingestuft werden, wenn sie Männern zugeschrieben werden und "männlich" konnotierte Themen betreffen.
Netzwerke gelten als zentraler Faktor für den Einstieg in eine akademische Laufbahn und die weiteren Karriereoptionen. Sie spielen eine entscheidende Rolle beim Zugang zu akademischen Stellen, Forschungsförderung und Sichtbarkeit und beeinflussen damit den akademischen Output. Gerade beim Recruiting von Bewerber*innen sind sogenannte Gatekeeper von großer Bedeutung. Sie können die Liste der möglichen Anwärter*innen auf eine Position entscheidend beeinflussen. Eine Studie zu Gender and Academic Networking hat in diesem Zusammenhang zwei Begriffe zentral herausgearbeitet, die jeweils eine klare Genderkonnotation haben: Vertrauen und Risiko. Vertrauen steht hierbei für "Ähnlichkeit" und "Erfolgsmodell" und hat eine tendenziell männliche Konnotation: Da die meisten Bereiche männlich geprägt sind und auch die dazugehörigen "Gatekeeper" überwiegend Männer sind, tendieren diese dazu, dass ihnen Bekannte und Vertraute zu reproduzieren. Frauen* gelten dagegen als die "risikoreicheren" Kandidat*innen, was ihre Kompetenz, Kongruenz und ihr Commitment betrifft. Die Begrifflichkeit und das Konzept der "Passfähigkeit" einer Person auf eine bestimmte Position ist in diesem Kontext wichtig. So wird in Kommissionen immer wieder argumentiert, dass jemand - abgesehen von der fachlichen Expertise - gut oder auch weniger gut in den Bereich passen würde. Hinter dieser "Passfähigkeit" verbirgt sich häufig eine unausgesprochene Bereichskultur, die wiederum stark von den dominierenden Netzwerken und Normen beeinflusst wird und anfällig für einen Gender Bias ist.
Geschlechterdifferenzen und Gender Bias müssen als gesamtgesellschaftlicher Wandel bekämpft werden, wobei auch die Universität Wien sowie die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften ihren Beitrag innerhalb dieses Wandels leisten müssen, sodass Frauen* jene Chancen, Sichtbarkeit und Anerkennung bekommen, die sie verdienen. Um dies zu bewerkstelligen, ist eine jede und ein jeder gefragt seine oder ihre Gender Bias, Vorannahmen und Befindlichkeiten zu hinterfragen und sich damit aktiv auseinanderzusetzen. Werden in Ihrer Kommission klare Faktoren für die Beurteilung der Qualität von wissenschaftlichen Outputs und Bewerbungen definiert? Werden vertiefende Begründungen eingefordert und widersprüchliche Beurteilungen diskutiert? Und werden Argumente der Passfähigkeit von Kandidat*innen kritisch hinterfragt? Sie können dazu beitragen, indem Sie sich Ihren etwaigen eigenen (Gender-)Bias bewusstmachen. Indem Sie auf unhinterfragte Annahmen und Stereotype in Ihrer Kommission hinweisen und Gründe für Entscheidungen hinterfragen.
Zum Nachlesen: Bericht Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen zu "Wissenschaftskarrieren und Gender Bias"
Wissenschaftstalk und Info-Workshop: Wissenschaftskarrieren und Gender Bias